Montag, 15.12.2014
Was für eine Erleichterung!
Da muss ich nach dem Termin in der Onkologie doch zunächst erstmal zu meinem neuen Stammcafé in der Nähe der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf (UKE)! Zwar geht es schon gegen 18 Uhr, aber das macht nichts – ich muss mir einfach noch einen Milchkaffee gönnen. Mich einen Moment lang sammeln. Den Termin im UKE noch kapieren.
Dann sitze ich vor meinem Milchkaffee, sichte kurz die vielen Papiere, die der Arzt mir mitgegeben hatte. Aber viel lesen kann ich gerade nicht. Die Worte des Arztes donnern noch geradezu durch meinen Kopf. Offenbar habe ich unfassbares Glück im Unglück!
Lange jedoch kann ich hier im Café jetzt gar nicht sitzen – ich merke, wie eine große Welle an Gefühlen auf mich zurollt. Erleichterung, pure Erleichterung! Nach all der ungeheuren Anspannung der letzten Zeit. Und bevor ich hier mitten im Café vor Erleichterung anfange zu heulen, stürze ich doch lieber meinen Kaffee flott runter, gehe raus und radle durch die Dunkelheit nach Hause. Da sieht niemand meine Tränen der Erleichterung.
Puh! Wow! Was für eine Achterbahnfahrt der Gefühle in den letzten Tagen – mit einem neuen Gipfel heute!
Aber fangen wir doch einmal vorne an.
Der Arbeitstag heute war kolossal stressig! Unser gesamtes, komplexes und individuell errichtetes Rechnersystem hatte über das gesamte Wochenende komplett abgeschaltet werden müssen. Ein seltener Vorgang, der auch nur notwendig ist, weil am Wochenende Wartungsarbeiten am Stromnetz anstehen.
Heute Morgen fahre ich das System dann Stück für Stück, also Rechner für Rechner, wieder hoch. EDV-Betreuung, eine meiner ursprünglichsten Aufgaben auf dem Job. Aber nichts funktioniert! Nichts! Die Systeme finden sich untereinander nicht mehr, es ist als seien alle Verbindungen gekappt. Mit dem üblichen Handwerkszeug komme ich nicht weiter.
Nach einiger Zeit werde ich langsam hektisch, nachdem ich nach und nach alles durchprobiert hatte und sich das System weiter störrisch zeigt. Ich schaffe es einfach nicht, unserem Messnetz wieder Leben einzuhauchen. Dabei hatte ich schon am Freitag in unserem Internetauftritt des Hamburger Luftmessnetzes angekündigt, dass ab heute Vormittag wieder Daten dort wären. Zudem sind wir dort auch zu einer stündlichen Veröffentlichung der Daten gesetzlich verpflichtet. Und jetzt geht nichts!
Ein Anruf beim Systementwickler bringt diesen zwar auf Trab – aber hilft zunächst auch nicht weiter. Ratlosigkeit allerorten. Nach einiger Zeit entschließt sich unser Systementwickler in Bremen, sich ins Auto zu setzen und zu kommen. Um 13:30 Uhr ist er dort. Mir steht das Adrenalin mittlerweile bis zur Halskrause.
Unser neues Rechnersystem – jetzt auch mit Krebs befallen?
Um 14 Uhr muss ich weg, zu dem Termin im UKE. Es wird etwas später, natürlich. Letztlich überlasse ich dem externen Experten komplett das Feld.
Das sind die Voraussetzungen, mit denen ich dann, zudem nach einer ziemlich rasanten Fahrrad-Fahrt, total gestresst in der Onkologie des UKE zu dem Termin mit dem Experten für Plasmozytome ankomme.
Eigentlich bin ich dort erstmal ganz froh, dass ich mich in das lieblose Wartezimmer setzen kann. Dort kann ich jetzt ein wenig runterkommen, Luft holen, abschwitzen. Wartezimmer können auch ihr Gutes haben, wenn man völlig gestresst auf so einer Station ankommt. Im Gegensatz zum Mittwoch letzter Woche ist das Wartezimmer heute nicht sehr voll und es herrscht insgesamt eine ruhige und gelassene Atmosphäre.
Nach einer guten halben Stunde werde ich dann aufgerufen, bin ein wenig erschreckt: Der am letzten Mittwoch sehr griesgrämige Kollege von der Blutentnahme steht vor mir. Es geht also zur Blutentnahme. Wieder mal. Vor einigen Tagen hatte er um die 25-30 Ampullen Blut entnommen – geht das jetzt schon wieder los?
Aber nein, heute ist es anders. Es werden nur fünf oder sechs Ampullen Blut. Und der Arzthelfer ist auch besser drauf, fragt mich, ob ich denn heute wieder für die Chemo dran wäre. Auf die Frage hin verliere ich nun leicht die Fassung, poltere zwei, drei Sätze rum, dass ich noch gar keine Ahnung habe, was eigentlich los sei, und von Chemo keine Spur! Was ich denn wohl machen müsse, um mal zu erfahren, um was es hier genau geht und wie es jetzt weiter geht?
Meine kurze Wutrede packt ihn offenbar am richtigen Punkt, er verlässt seine raue Schale und wird plötzlich ganz freundlich, lässt sich auf ein kurzes Gespräch ein. Zeigt eine Menge Verständnis, dass es für mich als Patienten blöde ist, die ganze Zeit vom einen zum anderen geschickt zu werden, ohne mal ein wirkliches Gespräch zu bekommen. Ich müsse einfach mal Dinge erfahren und wissen. Freundlich geht er hierauf ein, er könne sich meine Situation nur vorstellen – aber ich würde sicherlich bald mehr erfahren, verabschiedet er mich wieder ins Wartezimmer.
Eine knappe halbe Stunde später schon sollte er Recht behalten. Mein “neuer” Onkologe holt mich im Wartezimmer ab. Ein junger Mann Mitte 30. Der Experte für mein Plasmozytom. Nachdem ich zuletzt nicht so richtig erfolgreich mit meiner Neugierde war, habe ich heute beschlossen, das Heft des Handelns sofort in die Hand zu nehmen.
Ja, bestätigt er, er habe hier im Haus derjenige, der die weitaus meiste Erfahrung mit Plasmozytomen habe. Eine Kollegin sei auch noch mit dieser Krebsform befasst, sie habe jedoch noch längst nicht so viel Erfahrung, wie er – sei jedoch schon Oberärztin. Oha, denke ich bei mir – Eifersüchteleien. Nicht mein Thema, deren Problem – fertig.
Auf meine Frage, ob er mir denn überhaupt mal erklären können, was denn los und was ein Plasmozytom überhaupt sei, antwortet er routiniert, aber ausführlich. Er spult ein Programm ab, ein wenig lustlos. Aber er erklärt die Zusammenhänge, was der Feind in meinem Körper so treibt und treiben kann, ganz gut. Jedenfalls meine ich, jetzt eine Idee davon zu haben, was in mir passiert.
Immerhin! Ich verknüpfe das ein wenig, mit dem, was ich mir bisher selber angelesen habe, mit diesen sich nach und nach auflösenden Knochen, den ausfallenden Nieren. Puh!
Sämtliche Befunde und Untersuchungsergebnisse möchte ich sammeln, merke noch an. Ich würde dort zwar meist nichts verstehen, aber es habe sich bewährt, als Patient so etwas zu sammeln. Oder umgekehrt war es sehr blöde, dass ich von früheren Operationen keine Befunde habe – auch gerade jetzt bei der Kieferhöhlen-Öffnung, die ich vor zehn Jahren ja schon einmal erlebt hatte. Er findet dies sinnvoll und kümmert sich ohne zu zögern darum, mir alles auszudrucken, was er im Rechner über mich finden kann. Gut so!
Aber jetzt ist er dran, ich überlasse ihm sozusagen die weitere Gestaltung. Was ich höre, kann ich nach dem, auf was ich mich zuletzt eingestellt hatte, auf was ich mich einstellen musste, kaum glauben.
Nach allem, was man bisher untersucht habe, könne man die berechtigte Hoffnung haben, dass ich tatsächlich ein lokal begrenztes Plasmozytom habe. Und kein Multiples Myelom, bei dem sich die Krebszellen schon weit in den Knochen des Körpers ausgebreitet haben.
Er betont sofort noch einmal: Es gibt die berechtigte Hoffnung, nicht mehr! Aber auch nicht weniger! Es gäbe noch keine Gewissheit. Auf jeden Fall bestünde die Sicherheit, dass sich die Krebserkrankung noch kein fortgeschrittenes Stadium habe.
Mein Blutbild sei weitgehend normal, man finde nur geringe Spuren von bestimmten Proteinen, die auf meine Krebserkrankung hinweisen. Das Osteo-CT sei auch bereits ausgewertet – und zeige keine Auffälligkeiten, keine Knochenprobleme, nix. Außer dem bekannten in der Kieferhöhle.
Man habe bis jetzt keinerlei Hinweise finden können, dass sich an anderer Stelle des Körpers noch eine Krebswucherung befinde. Fast sei er sich sicher, dass es sich um ein lokales Plasmozytom handele. Wenn sich dies bestätigen würde, dann sei ich einer von vielleicht drei oder vier Fällen von insgesamt rund 100-150 bei ihm pro Jahr, die in diesem Stadium entdeckt werden. Dies würde üblicherweise nicht mit einer Chemotherapie behandeln, sondern mit einer lokal begrenzten Strahlentherapie. Diese würde so drei, vier, fünf Wochen dauern. Er wiegt den Kopf ein wenig – na, vier, fünf Wochen. Und es bestünde sogar eine Hoffnung auf Heilung.
Sagt er so! Der Felsbrocken in mir klebt aber noch fest – und ich bin derzeit nur sprachlos. Wahrscheinlich sitze ich mit offenem Mund da. Keine monatelange Chemo?
Also redet er weiter: Dies sei allerdings alles noch nicht endgültig sicher! Er betone noch einmal, dass dies im Moment der letzte Stand der Dinge sei – aber die Hoffnung darauf bestünde mit Grund. Das Diagnoseprogramm für das Plasmozytom sei allerdings schon fast komplett durchgespielt.
Um nun letzte Gewissheit darüber zu erhalten, dass mein Plasmozytom nicht doch schon einzelne Krebszellen in meine Knochen gestreut habe, müsse man eine Knochenmarkpunktion machen. Eine andere Möglichkeit gäbe es nicht. Bei vermeintlichem Knochenmarks-Krebs müsse man das Knochenmark eben auch untersuchen. Das sei ohne Alternative. Er druckt mir sogleich die Patienteninformation aus, die bei einer Untersuchung durchgearbeitet und unterschrieben werden muss. Und drückt sie mir in die Hand.
Prompt begeben wir uns auf Terminsuche. Er sei vor Weihnachten nur noch an den folgenden beiden Tagen hier, dann habe er einige Tage Urlaub.
Stimmt! denke ich: Es ist ja bald Weihnachten. Den eigenen Weihnachtsmarkt des UKE hatte ich ja auch schon irgendwie registriert – aber irgendwie war Weihnachten bisher nicht gerade ein großes Thema für mich. Ja, aber da mache ich doch gleich einen Vorschlag: Am morgigen Tag hätte ich am Vormittag wieder einen kleinen Termin in der Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgie (MKG). Meine Kieferhöhle solle wieder verschlossen werden. Ich sei morgen also eh nicht auf der Arbeit und wieder hier vor Ort – vielleicht ließe sich das ja irgendwie kombinieren?
So richtig scheint es ihm nicht zu passen – und irgendwie dann doch. Okay, sagt er, dann machen wir das morgen, um 14 Uhr. Okay? Falls es mir nach dem MKG-Eingriff aber sehr schlecht ginge, dann solle ich aber ruhig auch kurzfristig wieder absagen. Das würde wirklich nichts machen. Ein wirklich guter Vorschlag!
Ein wenig wie in Trance sitze ich noch dort, habe das Gefühl, gerade das große Los gezogen zu haben. Komme ich vielleicht glimpflich davon? Glück im Unglück, sozusagen? Hoffnung auf Heilung! Viel, viel mehr, als man sich bei dieser Diagnose erträumen kann!
Einige Wochen Strahlentherapie sind sicherlich kein Zuckerschlecken. Gedanken wandern zu meinem Vater, der nach einem Gehirntumor das volle Programm über sich hat ergehen lassen müssen: Erst Operation, dann Chemotherapie und zum Schluss Bestrahlung. Worunter er am allerallermeisten gelitten hat, war – die Bestrahlung. Und überhaupt: Bestrahlung am Kopf, das klingt wirklich nicht schön!
Aber doch: Wenn die Alternativen eine monatelange, wenn nicht gar lebenslange Chemotherapie oder eine wochenlange Strahlentherapie mit vager Hoffnung auf Heilung ist – dann bevorzuge ich doch Letzteres.
Was für eine eigentlich ja absurde Alternative! Vor vier Wochen für mich ganz undenkbar – und jetzt: Ein Thema meines Lebens.
Aber noch sitze ich ja beim Arzt. Und versuche, das gerade Gehörte noch irgendwie einzusortieren. Lasse meinen Blick über meinen umfangreichen Fragezettel schweifen. Das meiste war jetzt bereits beantwortet, ohne, dass ich es fragte. Aber halt! Da ist noch was – die Master-Frage, sozusagen! An der mein Herz hängt. Was wird mit den Cyclassics im kommenden Jahr? Dem von mir geliebten Jedermann-Radrennen-Feiertag in Hamburg?
Also formuliere ich ihm gegenüber den in den Wochen immer wieder überlegten Satz: Ich wolle ihm eigentlich sagen, er solle bitte dafür sorgen, dass ich im kommenden Jahr im August wieder an den Cyclassics teilnehmen könne. Dies sei für mich in diesem Jahr wegen meiner großen Augen-Operation leider ausgefallen. Wie er das denn für das nächste Jahr einschätzen würde?
Erst überlegt eine Sekunde, sagt dann nur zwei Worte: “Kein Problem!”
Fast haut es mich um!
Kein Problem? Einfach so? Tatsächlich! Falls er auf den psychologischen Effekt setzt, Zuversicht geben will – das hat geklappt! Aber er erscheint mir schlicht grundehrlich.
Wir bestätigen noch einmal den morgigen Termin und verabschieden uns. Damit habe ich morgen gleich zwei Termine für chirurgische Eingriffe, beide wohl nicht besonders groß. Aber, nun gut. Eine Knochenmarkpunktion – das klingt nicht gerade erbaulich. Ein wenig schaudert mich davor.
Aber jetzt ist erstmal Zeit für etwas Entspannung. Die ersten positiven, ja, guten Nachrichten seit langem! Wow! Da muss ich nachher noch einigen Leuten die gute Kunde überbringen. Aber erstmal, da gönne ich mir doch noch einen Kaffee in meinem neuen Stammcafé in der Nähe des UKE…