Dienstag, 12.5.2015
Das war er jetzt schon fast, der strukturierte Wiedereinstieg in die Arbeit, die “Wiedereingliederung”.
Nur noch wenige Tage, dann “darf” ich wieder normal, voll arbeiten – und bekomme dann auch immerhin wieder normales Gehalt. Derzeit bekomme ich ja von meiner Rentenversicherung Übergangsgeld, irgendwann später mal: 68 Prozent meines Normalgehaltes. Aber sehr nahe dran an der “Normalität” bin ich jetzt wieder. Und das finde ich gut.
Schon vor ein paar Monaten hatte ich ja ganz bewusst wahrgenommen, dass ich meine eigene “Normalität” doch sehr mag! Und sie brauche. Normalität ist für mich eben durchaus gleichzusetzen mit Stabilität. Aber ja, ich kenne auch Menschen, denen es ganz anders geht und die so stabile, ruhige Verhältnisse eher erdrückend finden.
“Normalität ist toll” – Noch vor wenigen Jahren eine Art undenkbarer Gedanke für mich. Normalität, das klingt eher nach Spießigkeit, alles ist geregelt, das Leben ist langweilig, man wickelt sich ein in eine warme Decke aus sich wiederholender Gleichförmigkeit und wird dabei träge.
Ja, und tatsächlich, solche Elemente enthält meine Normalität auch. Und doch: Ich bin auf dem Weg zurück. Und will derzeit eigentlich auch gar nichts anderes. Ich will mein altes Leben zurück! Basta!
Und weiß dabei doch genau: Mein altes Leben gibt es nicht mehr, wird es so auch nie wieder geben. Mein Krebs hat mich verändert. Von meinem alten Leben sind zwar viele Teile noch vorhanden. Aber es wird auch neu zusammensetzt. Als würde man versuchen, aus einem bestehenden Puzzle ein anderes, schönes Bild zusammenzusetzen.
Der Krebs hat die alte, aber bisher sehr theoretische Erkenntnis, dass mein Leben endlich ist, zu einer praktischen Erfahrung gemacht. Eine Zeitlang musste ich davon ausgehen, dass mein Leben nur noch Monate, vielleicht aber noch wenige Jahre währen wird. Ich habe erstmalig wirklich gespürt, mit Körper und Seele wahrgenommen, dass mein Leben zu Ende gehen wird, vielleicht schon ganz bald.
Mittlerweile habe ich zwar die Hoffnung, dass sich der Zeithorizont doch wieder deutlich erweitert – aber auch das weiß ich noch nicht sicher. Und diese Erkenntnis verändert mich, ein wenig zumindest.
Ich lebe momentan weitaus mehr im Hier und Jetzt, als jemals zuvor. Ich nehme Kleinigkeiten wahr und schätze diese in einem Maße, wie lange nicht. Ich bin aufmerksam in vielerlei Dingen, über ich ansonsten hinweg gegangen bin. Es kommt zu Begegnungen mit einigen Menschen, zu denen komplizierte Verhältnisse bestehen – und ich schaffe es, Dinge zu klären und zu bereinigen, die ich als Altlasten mit mir herumtrage. Herumgetragen habe?
Kurz: Ich sehe, ordne und sortiere mein Leben neu – ein wenig, zumindest. Das verblüffende daran: Dies war nie meine erklärte Absicht, das habe ich nie gewollt, das kommt jetzt “einfach so” über mich. Und es gefällt mir doch enorm.
Damit fühle ich mich insgesamt so gut, wie schon lange, lange nicht mehr.
Vielleicht ist das gar nicht so verblüffend. Denn: Ich bin ja in der glücklichen Situation, dass mir durch die Krebserkrankung aus meinem bisherigen Leben nur wenig verloren gegangen ist, ich keine körperlichen Schäden oder Einschränkungen erleiden musste. Auf der anderen Seite habe ich eine gewaltige Menge an völlig neuen Erfahrungen und Erlebnissen eingesammelt. Freunden habe ich immer wieder mal gesagt, dass ich das Gefühl habe, durch den Krebs ein ganz neue, völlig fremde und sehr aufregende Welt kennengelernt und erkundet zu haben. Und genau so ist es auch.
In meinem bisherigen Leben bin ich gerne irgendwohin gereist, in fremde Länder, große Städte, um Neues zu erleben. Um andere Gedanken in mein Leben zu bringen. Um Anregungen zu suchen. Manchmal, um Aufregendes zu erleben.
Wer Krebs hat, braucht solche Anregungen von Außen kaum noch. Wer Krebs hat, hat im Überfluss Aufregendes erlebt, Neues kennengelernt und viele, viele neue und verwirrende Gedanken gehabt. Sollte man in einem früheren Leben hier ein Defizit gehabt haben – das dürfte durch eine Krebserkrankung abgedeckt sein.
Nun kehre ich aus der fremden Krebs-Welt Stück für Stück wieder zurück in meine “alte Welt”. Und diese alte Welt ist weitgehend die gleiche geblieben, nur ich offenbar nicht so ganz. Ich bin aufmerksamer, sensibler, einerseits etwas ängstlicher, andererseits etwas mutiger, dankbarer, gelassener geworden. Und das fühlt sich gut an.
So komisch es klingen mag: Meine Krebs-Erkrankung hat mir AUCH gut getan.
Sonderbar – oder?