Mittwoch 14.1. / Donnerstag, 15.1.2015
3 von 30 Bestrahlungstagen, 5,4 Gray Energiedosis gegen meinen Krebs.
Meine Armbanduhr ist etwas altmodisch, mit dicken Zeigern über einem schwarzen Ziffernblatt mit unförmigen Ziffern. Um das Ziffernblatt herum befindet sich so ein komischer, drehbarer Ring mit Markierungszeigern. Den will ich verdrehen, aber, verdammt – warum geht das denn nicht? Ich drehe und würge daran herum, aber es gelingt nicht! Verdammt nochmal! Ich werde hektisch, rüttel herum. Verdammt, immer diese Hektik!
Moment mal – äh – Armbanduhr? Halt stopp! Äh – was ist gerade los? Seit Jahrzehnten habe ich doch gar keine Armbanduhr mehr! Einen Moment lang muss ich mich sammeln, ich höre ein Klickern und Klackern. Aber das kommt nun wirklich nicht von einer Uhr! Ich muss eingeschlafen sein und geträumt haben. Schon wieder! Wie absurd!
Im wirklichen Leben bin ich gerade bei der Strahlentherapie im UKE, das ist gerade meine dritte Bestrahlung – und zum dritten Mal bin ich dabei eingeschlafen. Das kann ja wohl nicht angehen! Heute das erste Mal sogar während des direkten Bestrahlungsvorgangs, nicht während einer Zwischen-Wartezeit.
Obwohl, nein, also, so richtig eingeschlafen bin ich natürlich nicht. Aber ein paar Sekunden lang weggedämmert. “Weggesackt” eben. Offenbar kann ich hier auf der gar nicht sonderlich bequemen Pritsche ganz gut entspannen. Das ist zwar nicht der Zweck der Übung, schadet aber nicht. Die Maske, mit der mein Kopf wie einbetoniert ist, scheint da kein Hindernis zu sein. Ebenso, wie der Geräuschpegel in dem Raum – der aus einem konstanten und somit durchaus einschläfernden Rauschen von und Gerät und Lüftern. Beim Bestrahlen selber kommt ja noch dieses sonderbare Klickern dazu.
Nachdem die erste Bestrahlung noch spannend und durch die nur in meinem Kopf entstehenden blauen Lichter sehr verwirrend war, zieht jetzt schon eine gewisse Routine ein. Auch die blauen Lichter in meinem Kopf tauchen zwar noch auf, sind aber natürlich nicht mehr so überraschend und irritierend. Auch scheint es so zu sein, dass die Bestrahlungen etwas verändert worden sind: Bei der ersten Bestrahlung leuchtete mein persönliches Blaulicht ja gleich mit dem ersten Röntgenstrahl auf. Jetzt läuft die Bestrahlung schon einige Zeit, bis mein Auge oder auch der Sehnerv erreicht wird und das blaue Licht nach und nach entsteht. Auch erscheint es mir nicht mehr ganz so blendend grell zu sein, wie beim ersten Mal. Vielleicht ja aber auch nur eine etwas falsche Erinnerung oder auch Gewöhnung?
Alles geht hier mittlerweile ziemlich zügig vor sich, aber trotzdem freundlich. Man kommt zur Strahlentherapie-Abteilung des UKE, wirft seine Namenskarte in den Briefschlitz des für einen festgelegten Bestrahlungsgeräts und setzt sich in den Wartebereich. Meist dauert die Wartezeit nicht lange.
Bei der Bestrahlung am Mittwoch schaffte ich es mit ein paar Unwägbarkeiten auf dem Weg gerade noch, exakt zu der vorgegebenen Zeit um 17:50 Uhr dort zu sein – meine Wartezeit betrug dann höchstens zwei Minuten. Am Donnerstag bemerke ich beim Einwerfen meiner Anmeldung einen Hinweiszettel: Man habe zur Zeit 20 Minuten Verspätung und bittet um Entschuldigung. Ach, das ist ja geradezu rührend! 20 Minuten, da würden andere gar kein Wort oder auch nur Gedanken verlieren. Wie oft habe ich stundenlang gewartet, ohne, dass das irgendwie zur Kenntnis genommen wird?
Aber gerade das zeigt vielleicht ja ganz gut, wie der Geist der Abteilung hier offenbar ist.
Nach meiner dritten Bestrahlung am Donnerstag habe ich mittlerweile 5,4 Gray als Energiedosis “geschluckt”. Und zum ersten Mal bemerke ich, dass sich in meinem Kopf ein wenig tut. Allerdings nur einen Hauch: Nach der Bestrahlung habe ich ein klein wenig Kopfschmerzen, eher ein komisches Gefühl, einseitig auf der rechten Hälfte meines Kopfes. Zunächst nahm ich an, dass das Druckgefühl hinter der Stirn durch den Druck der Maske entstanden ist. Aber es hielt sich dafür mit zwei bis drei Stunden zu lang und war auch nach einen langen Fußmarsch an der frischen Luft noch da.
Aber das war eigentlich nur ein Hauch von nichts – und, hallo, ich bin ja auch nicht zum Vergnügen hier! Es geht schließlich darum, meinem Krebs den Garaus zu machen! Was sind dagegen schon ganz leichte Kopfschmerzen? Eigentlich ist hier jedes Wort darüber schon zuviel…
Am Freitag fällt meine Bestrahlung aus, das Gerät ist wegen Wartungsarbeiten außer Betrieb. Also bekomme ich heute einen Zettel mit den Terminen der nächsten Woche. Ich werde immer abends hier sein, um kurz vor acht Uhr. Das Gerät der Tomotherapie scheint gut ausgelastet. Und Abendtermine sind mir recht – so lange ich arbeite, jedenfalls.
Eine andere Gewissheit hat mich andererseits mittlerweile eingeholt: Als neugieriger Mensch mit ein wenig technischem Verständnis konnte ich dem ganzen Prozedere rund meine Krebserkrankung bisher ja durchaus auch einiges Spannendes abgewinnen. Einige der Erlebnisse sind irgendwie ja auch ein bizarres Abenteuer. Die ganze Krebsdiagnose barg einige sonderbare Dinge.
Damit ist nun jedoch Schluss! Nun zieht ein gewissen Alltag ein, mein Therapie-Alltag. Es gibt für 30 Tage lang ein immer sich wiederholendes Prozedere an den Arbeitstagen – also für sechs Wochen.
Es tut mir durchaus gut, da jetzt mal eine Ordnung und Planbarkeit zu haben. Alles ist übersichtlich geworden. Für die nächste Zukunft jedenfalls (wer weiß schon, was für Nebenwirkungen noch anstehen?). Aber vielleicht wird dieses sich ständig wiederholende Prozedere mich auch in zwei Wochen schon langweilen, mich irgendwann vielleicht sogar nerven. Wer weiß? Ich sollte darauf achten, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren – meinen Krebs zu bekämpfen.
Zudem tut momentan aber vor allem das Gefühl gut, dass jetzt etwas gegen mein Plasmozytom gemacht wird. Ich bin derzeit voller Zuversicht und bester Stimmung. Diese ist keinesfalls vorgeschoben oder gespielt. Nein, ich bin tatsächlich richtig gut drauf – und mein Umfeld wundert sich darüber.
Aber es gibt noch einen Grund für meine gute Laune. Vor ein paar Tagen hatte ich aus lauter Neugierde mal im Hamburger Krebsregister ein wenig herum gestöbert. Das ist zwar nicht sehr schön zu bedienen, aber mit ein wenig gutem Willen findet man eine Menge Zahlen über Krebserkrankungen in Hamburg. Und dabei wurde mir dann endgültig deutlich, dass ich tatsächlich das Große Los in der Krebslotterie gezogen habe!
Im Hamburger Krebsregister sind die neuesten veröffentlichten Zahlen derzeit aus dem Jahr 2011. Demnach gab es in dem Jahr 2011 in Hamburg 142 Neuerkrankungen an “meiner Krebsart”, einem Plasmozytom (2010: 147, 2009: 142). Und von diesen Fällen war im Jahr 2011 genau ein einziger (!) Fall, der mit einem solitären, also lokal begrenzten, Plasmozytom davonkam – so, wie ich es habe (2010: 3, 2009: 2). Dies ist also in der Tat ein extrem seltener Glücksfall, den ich da erwischt habe.
Nur zum Vergleich: Brustkrebs-Neuerkrankungen weist das Hamburger Krebsregister für das Jahr 2011 insgesamt 1600 aus, darunter 14 Männer. Als Mann an Brustkrebs zu erkranken, ist deutlich wahrscheinlicher, als an einem solitären Plasmozytom. 1113 Männer erkrankten in Hamburg 2011 neu an Prostatakrebs, 1191 Männer und Frauen an Lungenkrebs. Und genau einer an “meinem” solitären Plasmozytom.
Nun, zugegeben, ich bin ein “Zahlenmensch”. Und bei den genannten Zahlen sind die wenigen Fälle (die man den Fingern einer Hand abzählen kann) eines solitären Plasmozytoms schon echte Exoten. Und gerade aufgrund der vergleichsweise günstigen Prognose kann ich mich nur als glücklichen Exoten ansehen! Ich bin ein Glückspilz!
Natürlich könnte ich dies vielleicht auch anders sehen. Natürlich könnte ich beklagen und bejammern, dass ich überhaupt Krebs habe. Und, ja, es ist klar: Ich hätte ihn lieber nicht!
Aber es ist nun einmal so, da hilft kein Lamentieren und kein Klagen. Eigentlich bin ich selbst erstaunt darüber, wie schnell ich mich auf diese Tatsache eingestellt habe, die ja plötzlich in mein Leben knallte. Der Krebs ist sehr schnell Teil meines Lebens geworden.
Wenn ich mich mit diesem Fakt abgefunden habe, dann kann ich es nur noch als ungeheuren Glücksfall empfinden, einen gut behandelbaren Krebs im Frühstadium zu haben. Es mag ja für viele paradox oder absurd klingen, aber derzeit empfinde ich gerade darum ein tiefes Glücksgefühl.
Mein Glaube daran, dass schon alles gut werden wird, ist derzeit sehr stark! Und damit gehe ich gut durch mein momentanes Leben. Sollte es dann doch anders kommen, dann werde ich mich neu darauf einstellen. Das kann ich ja, wie ich in den letzten Wochen gelernt habe.
Und: Dann gibt es wieder viel Stoff, um zu schreiben. Das Schreiben erweist sich für meine “Seelenhygiene” als extrem wichtig. Aber jetzt ist mir der Stoff über diese beiden Tage ausgegangen… Bei neuen Erlebnissen, neuen Gedanken tauchen diese auch hier wieder auf – keine Frage!